Last Christmas

Jan Grabowski machte einen Bummel durch die Oberstadt.

Es war einer dieser klaren, schneidenden Dezemberabende, an denen der Atem in der Luft stehen bleibt und über den Dächern von Bielefeld ein milchiger Dunst aus Lichterketten, Glühweindampf und leiser Weihnachtsmusik hängt. Jan zog den Schal höher. Eigentlich hatte er nur „kurz über den Weihnachtsmarkt“ gehen wollen. Aber schon an der ersten Straßenecke merkte er: Dieses Jahr war etwas anders.

Zwischen den Buden standen stumme, graue Kolosse. Wassercontainer, so groß wie Autos, 1.200 Liter pro Stück. 136 an der Zahl, hatte er gelesen. Sie standen wie schweigende Wächter an den Zufahrten, an Kreuzungen, vor Gassen, die früher einfach nur Wege in die Altstadt gewesen waren. Jetzt wirkten sie wie eine Betonfassung um ein kostbares, verwundbares Herz.

Jan blieb stehen, legte die Hand auf das kalte Metall. Er dachte an Berlin, an Magdeburg, an die Bilder von Lkw, die sich in Menschenmengen bohrten. Plötzlich sah er nicht mehr nur Container – er sah Verhinderung, Panik, Protokolle. Und die leise Frage, ob all das reichen würde.

Ein paar Meter weiter blockierte ein weißer Transporter die Einfahrt zur Obernstraße. „Tim’s Leihwagen“ stand in blauer Schrift auf der Seite. Dahinter ein weiterer, noch einer. Eine provisorische Mauer aus Blech. Jan trat näher, als eine Frau die Fahrertür öffnete und in die Nachtluft trat. Schneehose, dicke Jacke, Stirnlampe.

„Hier darfst du nicht rein, wenn, dann musst du über die Goldstraße fahren“, sagte sie zu einem Taxifahrer, der die Scheibe runterließ. In ihrer Stimme klang keine Aggression, aber auch kein Platz für Diskussion.

„Entschuldigung“, sagte Jan, „darf ich fragen, was Sie hier genau machen?“

Sie musterte ihn, dann zuckte sie mit den Schultern. „Straßensperre. Ich bin Claudia Mertens. Wir blockieren die Zufahrten. Wenn was mit Blaulicht kommt, machen wir auf. Sonst bleibt zu.“

Jan sah den Motor, sah den Funkspruch-Zettel am Armaturenbrett, sah die Thermoskanne auf dem Beifahrersitz.

„Und wenn wirklich jemand versucht, hier durchzubrechen?“, fragte er leiser.

Claudia sah an ihm vorbei in die Menge, wo Kinder kreischend um ein Karussell liefen. „Dann hoffe ich“, sagte sie, „dass die Container und wir genug sind. Und dass ich schnell genug reagiere.“

Sein Magen zog sich zusammen. In den nüchternen Zeilen der Neuen Westfälischen hatte sich das alles so technisch gelesen: Sicherheitsunternehmen „Sicherheit OWL“, 16 Lkw und Transporter, angemietet bei „Tim’s Leihwagen“. Angaben zu Fahrzeugspezifikationen, ein Sicherheitsschein nach §34a, ein Sprecher namens Thomas Berger, der betonte, dass die Leihautos von Anfang an Teil des Konzeptes gewesen seien. 40.000 Euro für Wassercontainer, 32.000 Euro für Leihwagen – Zahlen, Beträge, Positionen im Haushalt.

Hier auf dem Pflaster waren es keine Zahlen, sondern Gesichter.

Hinter einem der Fahrzeuge stand ein Mann, die Hände tief in den Taschen, die Mütze bis über die Ohren gezogen. Als Jan sich näherte, hörte er ihn zu einem Kollegen sagen: „…wenn was passiert, sind wir halt dran.“ Der Satz blieb im kalten Abend hängen wie der Rauch einer Zigarette.

„Sie arbeiten auch hier?“, fragte Jan.

„Ja“, sagte der Mann. „Emre Novak. Sicherheit OWL.“

„Haben Sie keine Angst?“

Emre lächelte schief. „Angst bringt mir hier keinen Meter. Ich weiß nur: Wenn ein Lkw kommt und Gas gibt, bin ich zwischen Stahl und Stahl. Das ist kein Hollywoodfilm. Das ist eine Excel-Tabelle: Risiko X, Einsatz Y. Ich bin das Y.“

Jan schluckte. Die Wasserkolosse, die Leihwagen, die Wachen in den Autos – sie alle ergaben ein Bild, in dem Weihnachten plötzlich etwas Wehrhaftes bekommen hatte. Die Lichter glitzerten weiter, die Musik spielte weiter „Last Christmas“, aber unter allem lag ein dumpfer Bass aus Furcht.

Später, als der Markt sich leerte und die Kälte in die Knochen kroch, machte Jan sich auf den Heimweg. In der Hand hielt er eine Tüte mit Honigkuchen, gekauft an einem kleinen, warm erleuchteten Stand am Rande des Marktes. Oben am Schild stand: „Honig & Herz – Heidi Sommer“.

Zwei Abende später ging er genau deswegen wieder hin. Nicht wegen der Sperren, nicht wegen der Container – wegen des Lächelns, das er hinter dem Tresen gesehen hatte, und wegen der Stimme, die bei einem spontanen Taizé-Singen vor der Kirche plötzlich mit eingestimmt hatte. Die Frau am Stand hatte nach dem Singen nur kurz gewunken, dann wieder Honigkuchen verkauft. „Heidi Sommer“, hatte auf ihrem Namensschild gestanden.

Jetzt stand sie wieder hinter der Theke, ein warmes Tuch um die Schultern, den Duft von Zimt und Honig um sich.

„Schon wieder Nachschub?“, fragte sie und grinste, als Jan vor ihr auftauchte.

„Diesmal eher Nachfragen“, sagte Jan. „Und vielleicht ein Honigkuchen dazu.“

Sie reichte ihm ein Stück, das noch warm war. „Na dann schieß los.“

Und so sprudelte es plötzlich aus ihm heraus: der Bummel durch die Oberstadt, die Wassercontainer, die kalten Hände von Claudia am Lenkrad, Emres halber Witz über das Berufsrisiko, der ältere Mann, der gesagt hatte, er fühle sich „gut abgesichert“ – und dabei gleichzeitig aussah, als würde ihm die Leichtigkeit der Kindheit für immer aus den Händen rinnen.

Heidi hörte zu, während sie Teig ausrollte und mit einer Ausstechform kleine Sterne formte. Ihre Hände arbeiteten automatisch, aber ihre Augen hingen an seinen Worten.

„Weißt du, was mich am meisten getroffen hat?“, fragte Jan am Ende. „Nicht die Container. Nicht die Leihwagen. Sondern der Moment, in dem ich gemerkt habe: Wir brauchen all das, damit wir uns trauen, einen Becher Glühwein zu trinken. Und selbst dann sitzt irgendwo jemand im Auto und scannt jede Bewegung, weil ein Fehler Leben kosten könnte.“

Heidi legte die Ausstechform beiseite, stützte sich mit beiden Händen auf der Theke ab und sah ihn ernst an.

„Ich stehe hier den ganzen Tag“, sagte sie leise, „verkäufe Honigkuchen, lächle Kinder an, frage niemanden nach Ausweis oder Rucksackkontrolle. Aber wenn ich abends die Plane runterlasse, gehe ich auch an diesen Containern vorbei. Und jedes Mal denke ich: Das ist wie eine Narbe. Man gewöhnt sich dran, aber sie erzählt trotzdem eine Geschichte.“

„Findest du die Sperren richtig?“, fragte Jan. „Oder rauben sie uns genau das, was wir schützen wollen – die Unbeschwertheit?“

Heidi atmete tief durch. „Ich glaube“, sagte sie, „die Sperren sind wie eine dicke Kruste auf einem Honigkuchen. Sie schützt, dass nichts kaputtgeht. Aber wenn du nur noch an der Kruste rumkaust, vergisst du, dass innen etwas Weiches ist. Die Leute sollen sich sicher fühlen – ja. Aber sie sollen nicht vergessen, warum sie überhaupt hier sind: um zu lachen, zu singen, zu staunen.“

Sie deutete mit dem Kinn Richtung Marktmitte. „Schau mal. Da vorne rennt ein Kind mit einem leuchtenden Stern herum. Dem ist egal, ob da ein Container steht. Für den ist das hier einfach nur: Weihnachten. Vielleicht ist das unser Job – meiner mit den Honigkuchen, deiner mit deinem wachen Blick – dafür zu sorgen, dass dieses Gefühl nicht komplett zugedeckt wird.“

Jan schwieg einen Moment. Aus einem Lautsprecher schob sich gerade „Last Christmas“ in den Abend. Ein Lied, das er eigentlich nicht mehr hören konnte – zu oft, zu laut, zu überall. Heute klang es seltsam passend: eine Melodie von verpassten Chancen, gebrochenen Herzen, und trotzdem wieder einem neuen Versuch im nächsten Jahr.

„Weißt du was“, sagte Heidi plötzlich, „Taizé ist schön, aber manchmal brauchen Menschen auch etwas, das sie kennen. Singst du mit?“

„Was denn?“, fragte Jan, obwohl er es schon ahnte.

Heidi lachte, ein leises, warmes Lachen, das zwischen Zimtduft und Lichterglanz hängen blieb. „Na was wohl? Last Christmas. Aber diesmal nicht ironisch. Einfach so – als kleines Trotz-Lied gegen all die Angst.“

Sie drehte den Lautsprecher am Stand ein wenig lauter, trat nach vorne, und bevor Jan ganz wusste, wie ihm geschah, summte er mit. Erst zaghaft, dann fester. Zwei Stimmen zwischen Honigkuchen und Wassercontainern, zwischen Straßensperren und Kinderkarussell.

„Last Christmas, I gave you my heart…“

Ein paar Leute blieben stehen, einige grinsten, einer schüttelte den Kopf, andere sangen halblaut mit. Für einen Moment mischte sich alles: die Erinnerung an Bedrohung, der Ernst der Fahrer in den Leihwagen, die nüchternen Zahlen im Rathaus – und darüber ein Lied, das in seiner Einfachheit genau das tat, was Bielefeld in diesem Winter so dringend brauchte:

Es ließ die Menschen für ein paar Minuten vergessen, wie viel Angst in diesem Fest inzwischen mitfeierte. Und erinnerte sie daran, dass man der Dunkelheit manchmal am besten mit einem schief gesungenen Weihnachtslied und einem warmen Stück Honigkuchen begegnet.

Casting

Jan Grabowski stand hinter dem schwarzen Vorhang der kleinen Aula, als könnte der Stoff ihn vor allem schützen, was gleich passieren würde. Die Bühne roch nach Staub, kaltem Licht und altem Holz – und nach dieser seltsamen Mischung aus Nervosität und Haarspray, die bei Castings immer in der Luft hing. Vorne probte der Tenor gerade seine hohe Stelle, die Begleitstimme des Klaviers klang durch die Lautsprecher, und jedes Mal, wenn die Gruppe ihren Einsatz verpasste, zuckte Jans rechter Fuß, als müsse er weglaufen.

Er war der dritte Bass in der A‑cappella‑Gruppe, der tiefe Teppich unter den Melodien der anderen. Normalerweise konnte er sich hinter den Stimmen der Kollegen verstecken, ein sicherer Grundton, den niemand sah, aber alle brauchten. Heute war alles anders: Das Casting sollte entscheiden, wer bei den nächsten Konzerten in Bielefeld auftrat – und wer nur noch als Name in einer WhatsApp‑Gruppe existierte. In den Mails stand es nüchtern, fast harmlos formuliert, doch Jan hörte darin ein Echo: „Wir müssen professioneller werden.“

Sein Handy vibrierte. Eine Nachricht von L. Credi, der Lehrerin, die er von der Grundschule Hasenfrisch kannte. Sie hatte in einer kleinen, experimentellen Telegram‑Gruppe heimlich ihre eigenen Songs geteilt, und dort hatten sie sich kennengelernt – sie nannte ihn damals „den Bass, der so tief singen konnte, dass sogar die Pausenklingel kurz leiser wurde“. Er hatte gelacht – damals. Jetzt las er ihre Nachricht immer wieder: „Jan, du bist nicht nur Stimme Nr. 3. Du bist der Boden, auf dem die anderen landen, wenn sie oben danebentreten. Atmen. Dann singen.“

„Nächster! Jan Grabowski!“ Die Tür zur Bühne sprang auf, das Licht dahinter blendete ihn. Drei Gesichter in der ersten Reihe, dahinter eine Handvoll anderer Sänger. In der Mitte saß Ciano Galetto, der Theaterleiter, der angeblich immer auf der Suche nach „echten Stimmen“ war.

Jan setzte an, sang „Evening Lights in Bielefeld“, tiefer und mutiger, als er es jemals in der Probe gewagt hatte. Die Stille nach dem letzten Ton war schwer, dann kam verhaltener Applaus. Der Chorleiter trat vor, das Klemmbrett in der Hand wie ein Urteilsspruch.

„Jan“, begann er, und das Wort klang schon wie eine Absage, „deine Tiefe ist stark, aber du passt nicht mehr in das Konzept, das wir verfolgen. Wir brauchen flexibel einsetzbare Stimmen, Solopotenzial, mehr Show. Du kannst gern weiter zuhören – aber als Sänger bist du raus.“

„Raus… wie meinst du das?“ Jans Stimme rutschte eine Nuance nach oben.

„Hochkant“, sagte der Chorleiter kühl. „Ab sofort bist du nicht mehr Teil der Gruppe.“

Der Satz traf härter als jeder schiefe Ton. Die WhatsApp‑Gruppe blieb, Jan nicht. In seinem Kopf flackerte L. Credis Nachricht auf, aber sie war jetzt eher Trostpflaster als Rettungsring. Er nickte stumm, nahm seine Mappe, verließ die Aula. Ciano Galetto sah ihm nach, den Kopf leicht schiefgelegt, sagte jedoch nichts. Noch nicht.


Drei Wochen später roch es nicht mehr nach Staub und Haarspray, sondern nach gebrannten Mandeln, Glühwein und nassen Wollschals. Der Weihnachtsmarkt in Bielefeld vibrierte vor Stimmen, Kinderlachen und dem ewigen Scheppern des Karussells. Jan stand mit seiner alten, leicht verkratzten Verstärkerbox am Rand des Platzes, dort, wo der Wind durch die Gassen pfiff und die Menschen trotzdem stehenblieben, wenn eine Stimme sie traf.

Er hatte lange überlegt, ob er sich wirklich auf die Straße stellen sollte. Ein ehemaliger dritter Bass, hochkant rausgeschmissen, jetzt vor Buden und Lichterketten? Aber irgendetwas in ihm hatte sich geweigert, leise zu werden, nur weil ein Chorleiter „Konzept“ gesagt hatte. Also programmierte er eine Loopstation, nahm ein paar tiefe Bass‑Teppiche auf und legte darüber seine Stimme – Solo, zum ersten Mal wirklich allein.

Er sang wieder „Evening Lights in Bielefeld“, diesmal nicht als Bewerbung, sondern als eigenes Lied. Die Lichter der Stadt spiegelten sich in den Pfützen, Menschen blieben stehen, drehten sich um, schoben ihre Handys in die Luft. Eine Frau filmte von Anfang bis Ende. Ein Kind setzte sich auf den Boden, nur um besser zuhören zu können. Jan spürte, wie seine Stimme zwischen den Buden hochstieg, sich an den Lichterketten brach und zurückkam, wärmer, sicherer.

Am Rand des Platzes stand ein Mann im dunklen Mantel, Schal locker, Hände in den Taschen. Ciano Galetto. Er hatte den Bass wiedererkannt, obwohl der Raum nun Himmel war und nicht Aula. Neben ihm stand jemand vom Stadtmarketing, der längst mit dem Stadtschreiberling‑Projekt vernetzt war.

„Der da“, sagte Ciano ruhig, „der wurde hochkant rausgeschmissen? Besorgen Sie mir seinen Namen. So eine Stimme verschenkt man nicht. Die stellt man mitten auf eine Bühne.“

Am Abend ging ein Video von Jans Straßenmusik viral: „Bass auf dem Bielefelder Weihnachtsmarkt – Gänsehaut pur“. Ein lokaler Radiosender teilte es, dann ein Kulturblog, dann die Seite stadtschreiberling.de mit der Überschrift: „Wie man einen dritten Bass unterschätzt – und er dann die Stadt einsingt.“

Es dauerte keine zwei Monate, bis Jan mit Ciano Galetto im Foyer des Theaters Bielefeld stand und einen Vertrag unterschrieb. Erst für ein experimentelles Musiktheaterstück, dann für eine kleine Tourproduktion. Das Weihnachtsmarkt‑Video brachte ihm nicht nur Auftritte, sondern auch Streaming‑Einnahmen, Sponsoring und eine Kooperation mit einer großen Plattform. Die Geschichte vom „hochkant rausgeschmissenen Bass, der auf dem Weihnachtsmarkt anfing“ wurde zur Legende – und zur Marke.

Drei Jahre später stand Jan vor einem Publikum, das nicht mehr zwischen Aula und Marktplatz unterscheiden musste, weil sein Name nun auf Plakaten stand. Er war längst kein dritter Bass mehr, sondern Kopf eines eigenen Vocal‑Projekts, hatte Anteile an den Produktionen, Lizenzen an seinen Songs und mehr Geld auf dem Konto, als er sich je hatte vorstellen können. Die Leute sagten „Millionär“ über ihn, halb bewundernd, halb ungläubig, wenn wieder ein Artikel erschien: „Vom Rauswurf zum Weihnachtsmarkt – und von dort auf die großen Bühnen.“

Abends, wenn er durch den Weihnachtsmarkt ging – jetzt eher inkognito, mit Mütze tief im Gesicht –, blieb er manchmal bei genau der Ecke stehen, an der er das erste Mal gesungen hatte. Dann summte er leise, fast nur für sich, den Anfang von „Evening Lights in Bielefeld“ und dachte daran, dass sein Leben genau dort begonnen hatte, wo ihn einer hochkant rausgeworfen hatte. Und dass es vielleicht keinen dramatischeren Anfang für eine Erfolgsgeschichte gibt, als einen kalten Abend, eine wackelige Box und den Mut, trotzdem den ersten Ton zu singen.

Schulpost

Hasso stand mit seinem gelben Dienstfahrrad vor der Grundschule Hasenfrisch, als hätte man ihn dort festgenagelt, und strich den nassen Schnee von den Schulterklappen, der sich anfühlte wie kalte Asche auf seiner Jacke. In der Lenkertasche steckte der Umschlag vom Schulamt, schwer wie ein Urteil, der Stempel scharfkantig in Blau: „Letzte Schulpost – nur in Papierform“.

Im Lehrerzimmer roch es nach abgestandenem Lehrerkaffee und nach Papier, das schon zu viele Durchläufe durch den Kopierer hinter sich hatte. Hasso stieß die Tür mit dem Ellenbogen auf, ein Windstoß Schnee im Rücken, und für einen Moment schien der Raum den Atem anzuhalten. Hinter einem schiefen Turm aus Matheheften tauchte L. Credi auf – die Lehrerin, die Füller verteidigte wie andere ihre Doktorarbeit, deren Bielefeld‑Geschichten aus der DAF‑DAZ‑Gruppe auf der Schulhomepage hingen, während der Server sich gerade mit Zertifikatsfehlern selbst sabotierte.

„Frau L. Credi, Sonderzustellung vom Schulamt“, sagte Hasso leiser, als er wollte, und legte den Umschlag vor sie hin, als lege er ein letztes Exponat in eine Vitrine, die danach verriegelt würde. „Vielleicht der letzte Brief dieser Art, bevor auch die Schulpost nur noch als Dateianhang existiert.“ Das Papier schabte hörbar über die Tischplatte; selbst der Getränkeautomat im Flur verstummte in diesem Augenblick in seinem Brummen.

Gemeinsam öffneten sie den Umschlag. Das Papier darin war schwer, fast trotzig gegen jede Cloud, und trug den glatten Text der Behörde: vollständige Umstellung auf ein digitales Portal, Papierpost nur noch als Erinnerung im Archiv. „Ab nächstem Schuljahr keine Papierpost mehr, alle Mitteilungen ausschließlich online“, las L. Credi und strich mit den Fingerspitzen langsam über den Stempel, als könnte sie ihn in die Haut einbrennen für Zeiten, in denen es keine Tinte mehr geben würde.

„Merkwürdig“, murmelte sie, und ihre Stimme klang brüchiger als eben noch, „die Kinder üben mühsam ihre Schreibschrift, und das Schulamt schickt uns in eine Welt ohne Umschläge.“ Hasso nickte, aber in ihm zog es sich zusammen: In seinem Kopf flackerte schon das Bild eines neuen Vitrinenfachs auf – „Schulbriefe – wenn Eltern noch Zettel aus den Ranzen fischten“ –, und zum ersten Mal fragte er sich, ob seine Ausstellung nicht in Wahrheit ein Museum für Sterbendes war.

„Wissen Sie was, Herr Hasso“, sagte L. Credi plötzlich, und in ihrem Blick lag etwas zwischen Trotz und Müdigkeit, „wir machen ein gemeinsames Projekt. Sie mit Ihrer Briefausstellung, ich mit meinen Krikelkrakel‑Texten aus der 1. Klasse und meinen Musiktexten.“ Sie hielt kurz inne, als überlege sie, ob sie den nächsten Satz wirklich laut sagen dürfe. „Ich schreibe nämlich heimlich Songs. Über genau solche Momente.“

Die Idee stand sofort im Raum, greifbar wie Kreidestaub: Jedes Kind sollte einen echten Brief an jemanden schreiben, der ihm wirklich fehlte oder wichtig war – an Oma in Senne, den Cousin in Ecuador, den unsichtbaren Vater, der nur noch als Name in der Akte stand, oder den Nachbarn im dritten Stock, der nie aus dem Fenster schaute. Hasso würde diese Briefe in seiner Zustelltour einsammeln, in seiner gelben Tasche wie kleine, flackernde Notlichter verstauen und zustellen, bevor das Schulamt die digitale Schranke endgültig herunterließ.

„Ein letztes Schulpost‑Experiment in analog“, nannte sie es und schrieb den Satz mit hart aufgedrücktem Kugelschreiber in ihr Notizheft, so dass sich die Rille sicher noch auf der nächsten Seite abzeichnete. Sie nahm sich vor, später einen Text darüber in den Lehrer‑Chat zu stellen – falls der Server sich bis dahin beruhigte und die Zertifikatswarnungen nicht wieder alles blockierten.

Hasso spürte dieselbe Wärme wie damals bei Björns Brief, aber heute mischte sich etwas wie Dringlichkeit darunter, fast Panik. Vielleicht, dachte er, waren diese Umwege über Papier nicht nur romantische Restbestände, sondern die letzten Brücken, bevor jeder nur noch auf Bildschirme starrte und Nachrichten wie Rauch verflogen. Und während draußen der Schnee dichter wurde und die Pausenglocke schrillte, hielt er die Hand kurz auf den Umschlag mit dem Stempel „Letzte Schulpost“ – als müsste er sich vergewissern, dass man Geschichte nicht nur liest, sondern in diesem Moment gerade mitschreibt.

POST

Björn Hardmudson – Der letzte Briefträger von Danmark

Es war einer jener Sommertage in Bielefeld, an denen die Sonne die Asphaltstraßen flimmern ließ und selbst die Fahrräder der Postboten träge wirkten. Auf dem Rasen vor dem alten Postamt standen sie dicht gedrängt – Männer und Frauen in Uniformen, ein Meer aus Gelb, Blau und Rot. Zwischen dampfenden Kaffeebechern und Geschichten aus alten Zeiten fand Björn Hardmudson, der Gast aus Danmark, seinen alten Freund Hasso von der Deutschen Post. Es war das internationale Postbotentreffen mit Postboten und Postbotinnen. Es fand wie jedes Jahr in der Alten Post in der City statt. Gesponsert von DHL als weltweiter Logistikpartner.

„Na, Björn!“, rief Hasso fröhlich, „über den Belt herübergeradelt?“
„Fast“, lachte Björn. „Aber ehrlich gesagt komme ich diesmal mit schwerem Gepäck.“
„Ach was, Rentenantrag?“
Björn schüttelte den Kopf. „Schlimmer. PostNord stellt die Briefzustellung ein. Ende 2025 ist Schluss.“

Hasso sah ihn an, als hätte er sich verhört. „Ganz aufhören? Keine Briefe mehr?“
„Keiner mehr,“ sagte Björn leise. „Nur noch Pakete. Die Geschichten der Menschen passen dann wohl in Kartons.“
Einen Moment lang schwieg Hasso. Dann klopfte er seinem Freund auf die Schulter. „Wenn’s so weit ist, dann schick mir den letzten. Ich werde darauf achten, dass er ankommt.“
Björn nickte. Und für einen kurzen Augenblick strahlte zwischen beiden das gemeinsame Verständnis jener, die einmal Träger der Worte waren.

Der Winter kam schnell. Der Morgenwind an der Küste war kalt und salzig, als Björn an einem Dezembermorgen den Sack über seine Schulter warf. Über København hing ein bleigrauer Himmel. „Ende 2025 wird der letzte Brief in Danmark zugestellt“, hatte man im Radio gehört. Und Björn wusste: Der letzte Brief würde durch seine Hände gehen.

Seit mehr als drei Jahrzehnten hatte er Liebesbotschaften, Mahnungen und letzte Worte ausgetragen – handgeschrieben, duftend, echt. Jetzt aber war alles anders. PostNord wollte sich modernisieren: Ab 2026 sollten nur noch Pakete ihr Kerngeschäft sein.

An diesem Abend hielt Björn an einem der letzten roten Briefkästen. „Bis zum 31. Dezember 2025 werden alle entfernt“, hatte man mitgeteilt. Er legte die Hand auf das spröde Metall. Dann zog er einen Umschlag hervor – ungeöffnet, unregistriert, nur mit drei Worten:
„Tak for tiden.“

Er warf ihn ein. Das leise Klacken des Einwurfs hallte in der frostigen Luft. Das Geräusch seiner Berufung – zum letzten Mal.

Ein Brief für Hasso

Zwei Wochen später, in Babenhausen Süd, einem ruhigen, grünen Stadtteil von Bielefeld, stapfte Hasso durch den Schnee vor seiner Haustür. Zwischen Werbeprospekten und Rechnungen lag ein unscheinbarer Brief ohne Absender, der nach Meer und kaltem Wind roch. Er öffnete ihn vorsichtig, und ein einzelner Satz stand darin, in vertrauter, kantiger Schrift:
„Tak for tiden.“

Hasso hielt inne. Die Worte sagten alles. Er setzte sich an den Küchentisch, sah auf den Brief – und plötzlich erschienen die Jahre in Gelb und Blau vor seinem inneren Auge: die frühen Morgen, die klammen Handschuhe, das kurze Lächeln an der Haustür.

Noch am selben Abend nahm er ein leeres Blatt Papier und notierte eine Idee, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging: eine kleine Ausstellung in Bielefeld über Briefe, alte Postkutschen, verschwundene Briefkästen und die Geschichten dahinter. Eine Hommage an das, was Menschen einander einst schrieben – und an Kollegen wie Björn, deren Arbeit nun aus der Zeit fällt.

Er heftete Björns Brief an eine Pinnwand über dem Schreibtisch. Darunter schrieb er: Ausstellungseröffnung: Wenn niemand mehr schreibt – und wir uns trotzdem erinnern.“


Dann legte er den Stift weg, sah ein letztes Mal auf die drei einfachen Worte – und beschloss, dass dieser Brief nie in einem Karton verschwinden würde.

Muskatnuss

Die 10-jährige Nateschki aus Bielefeld durchlebt auf dem Weihnachtsmarkt ein dramatisches Abenteuer: Sie probiert heimlich eine ganze Muskatnuss – etwas, das kaum jemand wagen würde. Die Nuss war als Deko an einem Stand mit Adventskränzen der Holzlisl-Gundi abgelegt. Nateschki stibitzee sie. Was zuerst harmlos scheint, wird schnell gefährlich. In Muskatnüssen stecken Stoffe wie Myristicin, Elemicin und Safrol, die bei hoher Dosierung Halluzinationen, Euphorie und Benommenheit auslösen können.

Bald darauf spürt Nateschki heftiges Unwohlsein. Ihr Bauch beginnt zu schmerzen, der Kopf dröhnt, das Herz rast. Myristicin verwandelt sich in der Leber zu einer amphetaminähnlichen Substanz, sodass schnell Symptome wie Übelkeit, Magenschmerzen, Schwindel, Erbrechen und Halluzinationen auftreten können – gerade für Kinder reichen schon kleine Mengen dafür aus. Für Erwachsene beginnt das Risiko ab etwa einer bis zwei ganzen Nüssen, für Kinder wie Nateschki kann schon eine Nuss bedenklich werden. Die Beschwerden werden so stark, dass ihr Opa Huber K. den Rettungsdienst ruft.
Sollte Hubert K. seiner Enkelin ein Schuss Glühwein geben?

Ein Deutscher trinkt im Durchschnitt etwa 0,5 bis 0,6 Liter Glühwein pro Jahr, basierend auf einem Gesamtverbrauch von rund 50 Millionen Litern jährlich bei etwa 84 Millionen Einwohnern. Diese Menge konzentriert sich stark auf die Weihnachtszeit (November bis Januar), wo Haushalte im Schnitt 1,2 bis 1,5 Liter kaufen.
Hubert K. flöste Nateschki Kinderpunch ein, das milderte die Sypmtome. Nateschki kam nach einer Nacht aus dem Krankenhaus nach Hause.

Zum Glück greifen viele bei Muskatnuss nur zu kleinen Mengen als Gewürz; so bleiben sie sicher – doch das Abenteuer auf dem Weihnachtsmarkt zeigt: Eine ganze Nuss kann für Kinder schnell gefährlich werden, und die Folgen reichen von Halluzinationen und Krämpfen bis hin zu lebensbedrohlichen Zuständen.

Auch bei anderen Lebensmitteln lauert Risiko: Der berühmte Casu Marzu aus Sardinien enthält lebende Maden, die für das würzige Aroma sorgen, aber im Darm Schaden anrichten können, falls sie lebendig verschluckt werden. Solche kulinarischen Abenteuer sind wahrlich nichts für Unvorsichtige.

Die Geschichte von Nateschki zeigt: Große Neugier kann zu großen Gefahren führen – und manchmal entscheidet schnelles Handeln über ein gutes Ende!

Weihnachtsmarkt 1.Teil

Der große Bielefelder Weihnachtsmarkt in der Innenstadt ist dieses Jahr nicht nur ein Fest der Lichter, sondern auch Schauplatz besonderer Geschichten. Zwischen den über 110 festlich geschmückten Buden, der spektakulären Weihnachtspyramide und den erstmals erstrahlenden LED-Eiskristallen in der Altstadt, bahnt sich ein kleines Drama an.

Hubert K., erst kürzlich nach seiner Haftentlassung wieder auf freiem Fuß, mischt sich zögernd unter das Lichtermeer. Sein Vergehen: Er hatte Vögel im Stadtgebiet Bielefeld gefüttert – ein verbotenes Tun, das ihm eine Strafe und nun eine Bewährungszeit eingebracht hat. Die Straßen, so vertraut und doch verändert, begrüßen ihn mit neuem, kaltem Glanz. Leuchtende Schneekristalle schweben über der Niedernstraße, die Fußgänger taumeln staunend durch die engen Gassen.

Doch als Hubert K. beinahe an den engstehenden, schwarz umhüllten Anschlagsverhinderungsblöcken scheitert – errichtet auf den einst freien Radwegen am Jahnplatz, so massiv und dicht wie eine moderne Kaaba – geschieht das Unerwartete: Im Getümmel entdeckt ihn ein fröhliches Kindergesicht. Es ist seine Enkelin Nataschki, die ihn voller Freude am Rand des Weihnachtsmarktes erwartet.

Mit leuchtenden Augen läuft sie auf Hubert zu und ruft: „Opa, endlich bist du wieder da!“ Ein Moment, in dem zwischen all dem vorweihnachtlichen Trubel und den Lichtern etwas aufscheint, was keine Beleuchtung ersetzen kann – die Hoffnung auf einen Neuanfang.

Währenddessen wundert sich Hubert still, ob wohl auch die Zeitung bald von den blockierten Radwegen und dem Gedränge an den Ampeln berichten wird – denn hier, auf dem hell erleuchteten Markt, liegen Freude und Ärger heute dicht beieinander…

In anderen Städten sind große, hässliche Betonklötze, die nun am Fahrbahnrand stehen. In der Branche heißen sie Anfahrschutz, in den Behörden werden sie (zum Missfallen des dänischen Unternehmens) mitunter auch Legosteine genannt – weil sie wegen der Noppen auf der Oberseite wie eine riesige Version der berühmten Bausteine aussehen. Und in Bielefefel?

Schwarze Blöcke mit Wasser drinnen.

Aber was war im letzten Jahr?

Bis tief in den Februar 2025 hinein hatten leuchtende Gestalten die Bahnhofsstraße gefüllt: glühende Wölfe, kühle Rothirsche und andere seltsame Kreaturen aus Licht erwarteten die Passanten, geschaffen vom City-Management, damit auch nach Weihnachten die Straßen nicht ins Dunkel sanken. Doch der Glanz blieb kalt.

Der Jahnplatz, einst Mittelpunkt der winterlichen Hoffnung, war unwiederkennbar.

Wo früher der große Tannenbaum gestanden und das Fest der Liebe gewärmt hatte, erhob sich nun ein fünf Meter hohes, starrendes Eichhörnchen aus Draht und LED-Licht. Es beherrschte den Platz, schimmerte wie eine Mahnung in der grauen Stadt – und spaltete die Gemüter, zerriss Erinnerungen an vergangene Jahre.

Hubert K., gebrochen von der Zeit hinter Gittern, schlich durch die engen Gassen. Die schwere Bewährung lastete auf seinen Schultern, jeder Schritt inmitten des Lichtergetriebes wirkte wie ein Gang durch eine beurteilende Menge. Die vertrauten kleinen Leucht-Eichhörnchen, einst still und warm über dem Weihnachtsmarkt, waren verschwunden. Was blieb, war Übermaß: schwarze Blöcke hatten die Radwege abgeriegelt, Fußgänger quetschten sich durch schnürende Engen, und das Licht – das Licht hatte jede Menschlichkeit verloren.

Da war die Stunde von Angelo  Zuccino. Angelo war aufstrebender Künstler. Er war neu in Bielefeld, hatte wenig Geld aber viel Talent. Sein Atelier war feucht und klein.  Er sammelte das letzte Silbergeld zusammen, ließ seine Kunstwerke auf Folien drucken und klebte sie auf die riesigen Wasserbetonpoller.

Angelo erreichte tausende von Besuchern… und wurde ein Weltstar.

Vorlesetag

Am Welttag des Vorlesens herrschte feierliche Aufregung in der Grundschule Hasenfrisch. Bunte Plakate schmückten die Flure, und aus mehreren Räumen drangen leises Kichern und gespanntes Warten. An diesem Tag war Bertha K. eingeladen worden, der 1. Klasse einen besonderen Besuch abzustatten.

Die Lehrerin, Frau L. Credi, begrüßte Bertha herzlich. Für die Kinder stellte sie eine gemütliche Leseecke mit bunten Kissen und Decken bereit. Bertha brachte nicht nur ihre Lieblingsbücher, sondern auch eine große Portion Lebensfreude mit. In ihrer ruhigen, warmen Stimme erzählte sie den Kindern von fernen Ländern und ihrem eigenen Leben zwischen Russland und Bielefeld.

Dann schlug sie eines der Bücher auf und begann ein russisches Märchen zu lesen. Bertha kam aus Jrdsowks.

Die Kinder lauschten gebannt, viele schlossen die Augen, um die Zauberwälder und mutigen Tiere vor sich zu sehen. Die kleine Nateschki, sechs Jahre alt, war besonders neugierig: Sie kannte Russisch von zu Hause und kletterte spontan auf Berthas Schoß, schmiegte sich an sie und hörte gebannt zu. Ihre dunklen Augen leuchteten vor Freude jedes Mal, wenn Bertha ein schwieriges russisches Wort ganz langsam und feierlich sprach.

L.Credi bemerkte lächelnd, wie die Generationen zusammenfanden: Die Geschichten verbanden die Kinder miteinander – und auch mit Bertha, die an diesem Tag viel mehr als nur Märchen schenkte. Freude, Wärme und eine Erinnerung daran, wie viel Geborgenheit schon ein gutes Wort und eine gute Geschichte bringen können.

So wurde der Welttag des Vorlesens für alle zu einem kleinen, unvergesslichen Fest – und Bertha verließ die Schule mit einem Herzen, das noch lange von den Kinderstimmen und dem Gefühl der Verbundenheit nachklang.

Während Bertha in der Leseecke den Kindern russische Märchen vorlas, stand draußen auf dem Schulhof ihr Mann Hubert K. Er hatte als Überraschung für die Schule einen ganzen Korb voller selbstgemachter Meisenknödel mitgebracht, die er kunstvoll zusammengebunden und liebevoll verpackt hatte.

Am Rand des Schulgartens bildete sich schnell eine kleine Traube neugieriger Kinder. Besonders drei Jungen entdeckten die bunten Meisenknödel zuerst und begannen sofort, sich heftig darum zu streiten: Wer dürfte den ersten aufhängen? Wessen Baum wäre am schönsten geschmückt? Hubert musste schmunzeln über den kindlichen Eifer. Mit einem Augenzwinkern schlug er ihnen vor, die Knödel gemeinsam im Schulgarten zu verteilen – und sich zu merken, wie schön es ist, wenn Menschen und Tiere sich begegnen, ganz ohne Streit.

Am Ende der Pause halfen alle zusammen, und in den Ästen der jungen Bäume im Schulgarten hingen bald bunte Knödel. Sogar die Jungen, die sich eben noch gezankt hatten, lachten miteinander. Hubert winkte Bertha durch das Klassenzimmerfenster zu – und beide spürten, wie eine kleine Geste manchmal große Freude bringen kann.

Plötzlich, als die Sonne gerade durch die kahlen Äste des Schulgartens blitzte und die Kinder lachten, rollte ein silberfarbenes Fahrzeug der Stadt Bielefeld auf den Schulhof. Zwei Beamte des Ordnungsamtes, in dunklen Uniformen und mit ernsten Mienen, schritten entschlossen auf Hubert zu. Die Idylle wurde augenblicklich von einer eisigen Stille verdrängt.

„Sind Sie Herr K.?“ fragte der größere der beiden, während der andere bereits sein Klemmbrett zückte. Hubert, noch mit einem Meisenknödel in der Hand, blickte irritiert auf. „Wissen Sie, dass das Verteilen nicht-veganer Meisenknödel in Bielefeld seit der letzten Stadtratssitzung strengstens untersagt ist?“

Die Kinder, die eben noch um die Knödel gestritten hatten, wichen erschrocken zurück. Zwei Mädchen hielten sich an Berthas Rockzipfel fest, Nateschki begann leise zu weinen. Noch während Hubert erklären wollte, er habe nur etwas Gutes tun wollen, klickten die Handschellen.

„Sie sind vorläufig festgenommen wegen Verstoßes gegen die Stadtsatzung und unerlaubter Abgabe tierischer Produkte an Vögel in öffentlichem Raum“, verkündete der Beamte kalt. Hubert blickte zu Bertha, deren Miene erstarrte – als hätte man die komplette Wärme aus diesem Tag gesogen.

Das einst fröhliche Schulfest war mit einem Schock beendet. Die Kinder standen still und ungläubig daneben, während Hubert abgeführt wurde. Durch das offene Fenster der Klasse fiel Berthas Märchenbuch zu Boden. Tränen standen in den Augen der Kinder – und in diesem Moment schien nicht nur der Schulgarten, sondern ganz Bielefeld ein klein wenig kälter zu werden.

Bertha und die Meisen

Der Wind fegte eisig durch die Straßen von Bielefeld, als Hubert K. an jenem Morgen der Rolandstraße entlangging. Die Stadt, die ihm seit Jahrzehnten eine Heimat war, wirkte an diesem Tag kälter und fremder als je zuvor. Mit jedem Schritt hoffte Hubert darauf, einen neuen Anfang zu finden, vielleicht sogar einen Sinn – stattdessen stoppte er abrupt. Vor seinen Füßen lag eine tote Meise, das Federkleid vom Frost erstarrt. Ein Stück Leben, ausgelöscht und übersehen zwischen Bordstein und Beton. Was war nur aus Bielefeld geworden?

Für Bertha K., die vor 30 Jahren aus Russland nach Bielefeld kam, war die Stadt einst ein Symbol für Hoffnung gewesen. Mit Stanislav, ihrem Mann, fand sie hier Zuflucht, Beständigkeit, das leise Glück im täglichen Miteinander. Doch seit Stanislavs Tod vor fünf Jahren lag auf Berthas Herz ein Schatten. Ihr Fenster zur Rolandstraße wurde zum Beobachtungsposten: Sie fütterte Vögel – Meisen, Spatzen, Amseln – schenkte ihnen jenen Funken Wärme, den sie in Bielefeld oft vermisste. Jeder Meisenknödel war ein Zeichen für Zuversicht, für Mitmenschlichkeit in der kalten Großstadt.

Doch die Verordnungen der Stadt Bielefeld holten sie ein. Seit dem Sommer 2025 steht mit nüchterner Strenge im Gesetz: Wer wildlebende Tiere füttert, verstößt gegen das Fütterungsverbot. Aus Sorge um die Taubenpopulation wurde in Vierteln wie dem Siegfriedplatz, mitten im Herzen von Bielefeld, jede Vogelfütterung kriminalisiert. Die Traditionen, die Herzen – alles sollte durch Ordnung ersetzt werden.

Bertha, gewohnt an russische Direktheit und Widerstandskraft, fütterte trotzdem, heimlich und mit Herzklopfen. Doch die tote Meise, gefunden von Hubert, wurde zum Mahnmal: Eine Stadt, die so sehr versucht, alles zu regeln, verliert das Gespür für ihre schwächsten Bewohner, die Menschen und Tiere gleichermaßen.

Hubert rang mit sich. Sollte er Bertha verraten? Sollte er Teil dieses Systems werden? Das Mitgefühl triumphierte. Statt einer Anzeige brachte er Bertha einen heißen Tee und einen alten Gedichtband in russischer Sprache vorbei. Gemeinsam verbrachten sie die langen Abende, während draußen über Bielefeld die Winterkälte immer tiefer kroch. Sie diskutierten, lachten, weinten – und erkannten: Das echte Bielefeld sind nicht Verordnungen und Strafen, sondern die Menschen, die sich umeinander kümmern.

Bertha und Hubert fanden inmitten von starren Regeln und frostigen Straßen zueinander. Vielleicht war es Schicksal, dass gerade eine tote Meise sie verband – als stummer Zeuge dafür, dass man im Herzen von Bielefeld immer noch Liebe und Menschlichkeit finden kann, wenn man den Mut dazu hat. Hubert K. und Bertha K. nahmen einen neuen Nachnamen an. Kraft wollten sie nun heißen. Und es war Zeit der Enkelin einen Brief zu schreiben.

Bundeswehr

Am Büdchen traf er seinen alten Freund Hubert K. wieder. Ein Pilsbier schmeckte immer.

Gabriel hatte Angst. Er wollte nicht vom Schwarz-Discounter verfolgt werden.

Hubert K. jammerte über die hohen Kosten. Er brauchte einen neuen Rasierapparat.

300 Euro sollte er kosten. Bingo. Gabriel zog einen Packen leerer Etiketten aus der Tasche.

Er sagte zu Hubert K:

 „Du gehst in den Mediusladen, kaufst zehn Gegenstände für kleines Geld. Ich drucke deren Barcodes auf meine Etiketten. Du gehst in den Laden, packst die anderen Label drauf und kaufst zehn Produkte, IPhone, Kitchenaids, Kaffeevollautomaten. Da kommst du locker auf 5000 Euro.  Danach schmeißt du dein Handy in den Ententeich! Als Gebühr gibst du mit zehn Prozent der Warensumme. Überlege mal. Das ist doch gut, oder?“

Sollte Hubert K. seinem Freud vertrauen? Er ist innerlich zerrissen zwischen seiner lebenslangen Freundschaft mit Gabriel und einer mysteriösen Aufgabe, die weit über gewöhnlichen Diebstahl hinausgeht. Vielleicht arbeitet er für eine verborgene Organisation, die das Ungleichgewicht in der Handelswelt korrigieren will oder gegen korrupte Großkonzerne kämpft – auf eine Weise, die an moderne Robin-Hood-Geschichten erinnert.

Hubert K. steht vor einer schwierigen Entscheidung: Sein Vertrauen zu Gabriel wird auf die Probe gestellt, denn das vorgeschlagene Vorgehen mit den gefälschten Barcode-Etiketten ist hochgradig riskant und illegal.

Moderne Sicherheitsetiketten setzen auf fälschungssichere Techniken wie holografische Merkmale, versteckte Laser-Codes, RFID-Chips, Mikrotext oder verschlüsselte Barcodes, die sich nicht einfach kopieren lassen. Das bedeutet: Die Manipulation von Barcodes ist technisch anspruchsvoll und wird von den Firmen mit immer ausgefeilteren Mitteln überwacht und bekämpft, um Betrug zu verhindern.

Hubert K. nahm die Etiketten an. Er hatte einen Plan.

Sollte doch sein Enkel Bertoli das Ganze durchführen. Er war jung und digital aufgewachsen. Hubert K. nicht.

Hubert K.  was für ein blöder Name. Hieß nicht ein Sänger mal so? Egal. Sein richtiger Name war Hubert Kuul. Mit H. es gab ständiges Gelächter, wenn er seinen Namen sagte. Ob er frieren würde? Seinen Sohn nannte er Berti. „Bert“ musste in der Familientradition vorkommen, aber das sein Enkel nun wie eine Nudelmarke hieß….

Bertoli K. nahm die Etiketten seinen Opas gerne an.  Vielleicht konnte er damit etwas machen. Aber für ihn standen wichtige Tage an. Er wurde bald 18 Jahre alt. Und er wurde gemustert. Beim Kreiswehrersatzamt. In Bielefeld. In der Nähe des Naturkundemuseums. Da war der Opa auch. Hubert K. gehörte zu den Babyboomern, musste sich der Musterung in Feinripp stellen. Er wurde aber aussortiert. T5.. untauglich. Wegen einer Operation. Es gab ja genügend junge Männer. Hubert K. brauchte auch kein Zivildienst schieben. Aber Bertoli hatte es erwischt.

Aktuell soll die Soldatentruppe auf mindestens 260.000 aktive Soldatinnen und Soldaten anwachsen, dazu kommen 200.000 Reservistinnen und Reservisten. Für das Jahr 2031 ist vorgesehen, jährlich bis zu 40.000 neue Rekruten (Wehrdienstleistende) zu gewinnen.

Ab 2026 soll der Neue Wehrdienst eingeführt werden, bei dem alle 18-jährigen Männer eines Jahrgangs zur Musterung eingeladen werden, um den Pool potenzieller Rekruten zu ermitteln. Das soll sicherstellen, dass mehrere Tausend Freiwillige pro Jahr für den Wehrdienst rekrutiert werden können.

Zusammengefasst heißt das: Die Bundeswehr benötigt derzeit und in naher Zukunft jährlich zwischen 20.000 und 40.000 Rekruten.

12648 war seine persönliche Losnummer. Er wurde gezogen.

 Losglück: „Sie sind in der Bundeswehr“. Das wird ein Abenteuer, so wie ein Computerspiel oder wie Squid Games. Und wenn man länger dort blieb, gab es noch einen Führerschein gratis dazu.

Bertoli wollte nach der Schule eigentlich ein Jahr lang Meerschweinchen in Lima züchten, stand aber nun im Camouflage T-Shirt vor seinem Opa.

Bertoli wurde auf das Grundgesetz vereidigt. Er nahm das sehr ernst. Aber das bedeutete auch, dass er die Etiketten für den Mediusmarkt als guter Soldat nicht annehmen durfte.

Bertoli Kuul entsorgte die Etiketten auf dem Wertstoffhof Nord. Ihm ging es gut. Sein Opa aber saß Sonntagmorgen immer am Frühstückstisch und schnitt die Rabattscheine aus den Wochenprospekten der Discounter aus. Irgendwie musste man über die Runden kommen. Vielleicht doch gefakte Aufkleber von Gabriel nehmen?

Schwarz

Guten Tag, spreche ich mit Herrn ……?“ fragte Naina Sharma den Hörer am anderen Ende der Leitung.

· Naina Sharma arbeitete in Bielefeld. Sie war seit wenigen Jahren in Bielefeld. Sie wohnte früher auf einer indischen Insel, Neil Island. Neil Island (Shaheed Dweep), ebenfalls in den Andamanen, mit einer kleineren Einwohnerzahl und ruhigerem Ambiente. Naima hatte eine ältere Schwester. Anaya Sharma war zur Welt gekommen mit einer rüsselartigen Nase. Man munkelt, dass das kein Schicksal der Götter war, sondern Auswirkungen von Atomtests sind. Shaheed Dweep ist nur 6000 km vom Bikini-Atoll weg. Hier fanden zwischen 1946 und 1958 zahlreiche US-Atomtests statt, darunter die berühmte Wasserstoffbombe „Castle Bravo“ 1954, die eine enorme Zerstörungskraft hatte. Das Atoll wurde dadurch stark radioaktiv verseucht und die Bewohner mussten evakuiert werden.

Auf Shaheed Dweep stieg langsam das Wasser durch die Klimaerwärmung. Die Großmächte wollten weitere Atomtests in ihrer Region durchführen und Naima zog nach Bangalore. Sie wollte keine Rüsselnase.

Dort jobbte sie in einem Call-Center. Es war okay. Sie sollte zum einen für europäische Kunden das Lieferkettengesetz durchforschen und Verbraucheranfragen für den asiatischen Bereich klären. Zudem die Daten dem BIG BOY geben, einer mächtigen KI. So erfuhr sie, dass in Deutschland viele Haustiere leben. Im Durchschnitt geben Deutsche monatlich etwa 40 bis 70 Euro für ihre Haustiere aus, wobei die Ausgaben je nach Tierart variieren. Hunde sind am teuersten mit durchschnittlichen Kosten von etwa 110 Euro pro Monat, Katzen kosten etwa 60 bis 70 Euro monatlich. Kleinere Haustiere wie Kaninchen oder Meerschweinchen sind günstiger, während Vögel mit rund 7 Euro pro Monat zu den kostengünstigeren Haustieren gehören.

Diesem Land muss es gut gehen. Da will ich hin. Naima hatte Geld gespart. Bis Warschau ging die chinesische Seidenstraße. 7500 km. Von da mit dem Flixbus. Passt.

Sie fing beim Schwarz-Discounter an zu arbeiten. Zuerst hieß es nur: MOPRO vorziehen. Dass Europäer so viele Milchprodukte trinken, war ihr neu. Dann durfte Naima an der Kasse arbeiten und einige Zeit später war sie Filialleiterin. Später war sie Buchhalterin der elf Schwarz-Discounter der Stadt. Der Discounter hatte Großes mit ihr vor. Sie sprach die Sprachen Asiens und man brauchte Kontakte nach China, Indien und Indonesien. Naima machte die Monatsabrechnung. In allen elf Läden gab es seit längerer Zeit ein Minus von fast 5000 Euro jeden Monat. Wie konnte das sein?

Naima ordnete eine Inventur an. Die Neffen der Grundschullehrerin L. Credi stockten durch das Zählen von Klopapier und Bauerntrunk ihr Taschengeld auf. Naima bekam die Zahlen online. Wieso waren demnach noch Champagner, Gänse, Wachtelbrüste tonnenweise im Laden und Hefe, Erbsen in Dosen und 19ct-Joghurts ständig ausgebucht?

Naima verglich die Einkaufslisten mit den Handynummern. An den SB-Kassen musste man eine Handynummer eingeben, um Rabatte zu bekommen. Und komisch, ein Kunde kaufte immer das Gleiche ein. Wer war dieser Mensch? Mann oder Frau? Die Telefonnummer war ge-ixt. Da stand nur 016745xxxx. Aber immer wieder. Ja, Naima war Chefin, aber sie musste das Gesetz brechen. Sie konnte die XXX entfernen und das Datenschutzgesetz brechen. Sie könnte gefeuert werden oder einen großen Sprung auf der Karriereleiter machen. Was sagt man in Deutsch? „Einmal ist keinmal.“

Ursprünglich bezog es sich vermutlich auf alte deutsche Gerichtsverfahren, in denen eine einmalige Vorladung oft als ungültig galt, wenn der Angeklagte nicht erschien. Es kann bedeuten, dass einmalige Fehler tolerierbar sind oder dass einmaliges Verhalten noch keine Gewohnheit darstellt. Es wird auch verwendet, um zu sagen, dass einmal zu wenig ist, um einen dauerhaften Effekt zu erzielen. Zusammengefasst heißt es: Ein einzelnes Ereignis zählt nicht wirklich oder ist unbedeutend, wenn es nicht wiederholt wird – einmal ist keinmal.

Naima änderte die Software, sah den Klarnamen und tippte die Nummer in ihr Dienstgerät.

Es klingelte. Gabriel Hoffer nahm das Gespräch an. Er nannte seinen Nachnamen. Da stockte ihm der Atem.

„Guten Tag, Naima Sharma am Apparat, Schwarz-Discounter -AG. Spreche ich mit Gabriel Hoffer?“ fragte die Stimme.

Gabriel donnerte sein iPhone an die Wand.

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