
Jan Grabowski machte einen Bummel durch die Oberstadt.
Es war einer dieser klaren, schneidenden Dezemberabende, an denen der Atem in der Luft stehen bleibt und über den Dächern von Bielefeld ein milchiger Dunst aus Lichterketten, Glühweindampf und leiser Weihnachtsmusik hängt. Jan zog den Schal höher. Eigentlich hatte er nur „kurz über den Weihnachtsmarkt“ gehen wollen. Aber schon an der ersten Straßenecke merkte er: Dieses Jahr war etwas anders.
Zwischen den Buden standen stumme, graue Kolosse. Wassercontainer, so groß wie Autos, 1.200 Liter pro Stück. 136 an der Zahl, hatte er gelesen. Sie standen wie schweigende Wächter an den Zufahrten, an Kreuzungen, vor Gassen, die früher einfach nur Wege in die Altstadt gewesen waren. Jetzt wirkten sie wie eine Betonfassung um ein kostbares, verwundbares Herz.
Jan blieb stehen, legte die Hand auf das kalte Metall. Er dachte an Berlin, an Magdeburg, an die Bilder von Lkw, die sich in Menschenmengen bohrten. Plötzlich sah er nicht mehr nur Container – er sah Verhinderung, Panik, Protokolle. Und die leise Frage, ob all das reichen würde.
Ein paar Meter weiter blockierte ein weißer Transporter die Einfahrt zur Obernstraße. „Tim’s Leihwagen“ stand in blauer Schrift auf der Seite. Dahinter ein weiterer, noch einer. Eine provisorische Mauer aus Blech. Jan trat näher, als eine Frau die Fahrertür öffnete und in die Nachtluft trat. Schneehose, dicke Jacke, Stirnlampe.
„Hier darfst du nicht rein, wenn, dann musst du über die Goldstraße fahren“, sagte sie zu einem Taxifahrer, der die Scheibe runterließ. In ihrer Stimme klang keine Aggression, aber auch kein Platz für Diskussion.
„Entschuldigung“, sagte Jan, „darf ich fragen, was Sie hier genau machen?“
Sie musterte ihn, dann zuckte sie mit den Schultern. „Straßensperre. Ich bin Claudia Mertens. Wir blockieren die Zufahrten. Wenn was mit Blaulicht kommt, machen wir auf. Sonst bleibt zu.“
Jan sah den Motor, sah den Funkspruch-Zettel am Armaturenbrett, sah die Thermoskanne auf dem Beifahrersitz.
„Und wenn wirklich jemand versucht, hier durchzubrechen?“, fragte er leiser.
Claudia sah an ihm vorbei in die Menge, wo Kinder kreischend um ein Karussell liefen. „Dann hoffe ich“, sagte sie, „dass die Container und wir genug sind. Und dass ich schnell genug reagiere.“
Sein Magen zog sich zusammen. In den nüchternen Zeilen der Neuen Westfälischen hatte sich das alles so technisch gelesen: Sicherheitsunternehmen „Sicherheit OWL“, 16 Lkw und Transporter, angemietet bei „Tim’s Leihwagen“. Angaben zu Fahrzeugspezifikationen, ein Sicherheitsschein nach §34a, ein Sprecher namens Thomas Berger, der betonte, dass die Leihautos von Anfang an Teil des Konzeptes gewesen seien. 40.000 Euro für Wassercontainer, 32.000 Euro für Leihwagen – Zahlen, Beträge, Positionen im Haushalt.
Hier auf dem Pflaster waren es keine Zahlen, sondern Gesichter.
Hinter einem der Fahrzeuge stand ein Mann, die Hände tief in den Taschen, die Mütze bis über die Ohren gezogen. Als Jan sich näherte, hörte er ihn zu einem Kollegen sagen: „…wenn was passiert, sind wir halt dran.“ Der Satz blieb im kalten Abend hängen wie der Rauch einer Zigarette.
„Sie arbeiten auch hier?“, fragte Jan.
„Ja“, sagte der Mann. „Emre Novak. Sicherheit OWL.“
„Haben Sie keine Angst?“
Emre lächelte schief. „Angst bringt mir hier keinen Meter. Ich weiß nur: Wenn ein Lkw kommt und Gas gibt, bin ich zwischen Stahl und Stahl. Das ist kein Hollywoodfilm. Das ist eine Excel-Tabelle: Risiko X, Einsatz Y. Ich bin das Y.“
Jan schluckte. Die Wasserkolosse, die Leihwagen, die Wachen in den Autos – sie alle ergaben ein Bild, in dem Weihnachten plötzlich etwas Wehrhaftes bekommen hatte. Die Lichter glitzerten weiter, die Musik spielte weiter „Last Christmas“, aber unter allem lag ein dumpfer Bass aus Furcht.
Später, als der Markt sich leerte und die Kälte in die Knochen kroch, machte Jan sich auf den Heimweg. In der Hand hielt er eine Tüte mit Honigkuchen, gekauft an einem kleinen, warm erleuchteten Stand am Rande des Marktes. Oben am Schild stand: „Honig & Herz – Heidi Sommer“.
Zwei Abende später ging er genau deswegen wieder hin. Nicht wegen der Sperren, nicht wegen der Container – wegen des Lächelns, das er hinter dem Tresen gesehen hatte, und wegen der Stimme, die bei einem spontanen Taizé-Singen vor der Kirche plötzlich mit eingestimmt hatte. Die Frau am Stand hatte nach dem Singen nur kurz gewunken, dann wieder Honigkuchen verkauft. „Heidi Sommer“, hatte auf ihrem Namensschild gestanden.
Jetzt stand sie wieder hinter der Theke, ein warmes Tuch um die Schultern, den Duft von Zimt und Honig um sich.
„Schon wieder Nachschub?“, fragte sie und grinste, als Jan vor ihr auftauchte.
„Diesmal eher Nachfragen“, sagte Jan. „Und vielleicht ein Honigkuchen dazu.“
Sie reichte ihm ein Stück, das noch warm war. „Na dann schieß los.“
Und so sprudelte es plötzlich aus ihm heraus: der Bummel durch die Oberstadt, die Wassercontainer, die kalten Hände von Claudia am Lenkrad, Emres halber Witz über das Berufsrisiko, der ältere Mann, der gesagt hatte, er fühle sich „gut abgesichert“ – und dabei gleichzeitig aussah, als würde ihm die Leichtigkeit der Kindheit für immer aus den Händen rinnen.
Heidi hörte zu, während sie Teig ausrollte und mit einer Ausstechform kleine Sterne formte. Ihre Hände arbeiteten automatisch, aber ihre Augen hingen an seinen Worten.
„Weißt du, was mich am meisten getroffen hat?“, fragte Jan am Ende. „Nicht die Container. Nicht die Leihwagen. Sondern der Moment, in dem ich gemerkt habe: Wir brauchen all das, damit wir uns trauen, einen Becher Glühwein zu trinken. Und selbst dann sitzt irgendwo jemand im Auto und scannt jede Bewegung, weil ein Fehler Leben kosten könnte.“
Heidi legte die Ausstechform beiseite, stützte sich mit beiden Händen auf der Theke ab und sah ihn ernst an.
„Ich stehe hier den ganzen Tag“, sagte sie leise, „verkäufe Honigkuchen, lächle Kinder an, frage niemanden nach Ausweis oder Rucksackkontrolle. Aber wenn ich abends die Plane runterlasse, gehe ich auch an diesen Containern vorbei. Und jedes Mal denke ich: Das ist wie eine Narbe. Man gewöhnt sich dran, aber sie erzählt trotzdem eine Geschichte.“
„Findest du die Sperren richtig?“, fragte Jan. „Oder rauben sie uns genau das, was wir schützen wollen – die Unbeschwertheit?“
Heidi atmete tief durch. „Ich glaube“, sagte sie, „die Sperren sind wie eine dicke Kruste auf einem Honigkuchen. Sie schützt, dass nichts kaputtgeht. Aber wenn du nur noch an der Kruste rumkaust, vergisst du, dass innen etwas Weiches ist. Die Leute sollen sich sicher fühlen – ja. Aber sie sollen nicht vergessen, warum sie überhaupt hier sind: um zu lachen, zu singen, zu staunen.“
Sie deutete mit dem Kinn Richtung Marktmitte. „Schau mal. Da vorne rennt ein Kind mit einem leuchtenden Stern herum. Dem ist egal, ob da ein Container steht. Für den ist das hier einfach nur: Weihnachten. Vielleicht ist das unser Job – meiner mit den Honigkuchen, deiner mit deinem wachen Blick – dafür zu sorgen, dass dieses Gefühl nicht komplett zugedeckt wird.“
Jan schwieg einen Moment. Aus einem Lautsprecher schob sich gerade „Last Christmas“ in den Abend. Ein Lied, das er eigentlich nicht mehr hören konnte – zu oft, zu laut, zu überall. Heute klang es seltsam passend: eine Melodie von verpassten Chancen, gebrochenen Herzen, und trotzdem wieder einem neuen Versuch im nächsten Jahr.
„Weißt du was“, sagte Heidi plötzlich, „Taizé ist schön, aber manchmal brauchen Menschen auch etwas, das sie kennen. Singst du mit?“
„Was denn?“, fragte Jan, obwohl er es schon ahnte.
Heidi lachte, ein leises, warmes Lachen, das zwischen Zimtduft und Lichterglanz hängen blieb. „Na was wohl? Last Christmas. Aber diesmal nicht ironisch. Einfach so – als kleines Trotz-Lied gegen all die Angst.“
Sie drehte den Lautsprecher am Stand ein wenig lauter, trat nach vorne, und bevor Jan ganz wusste, wie ihm geschah, summte er mit. Erst zaghaft, dann fester. Zwei Stimmen zwischen Honigkuchen und Wassercontainern, zwischen Straßensperren und Kinderkarussell.
„Last Christmas, I gave you my heart…“
Ein paar Leute blieben stehen, einige grinsten, einer schüttelte den Kopf, andere sangen halblaut mit. Für einen Moment mischte sich alles: die Erinnerung an Bedrohung, der Ernst der Fahrer in den Leihwagen, die nüchternen Zahlen im Rathaus – und darüber ein Lied, das in seiner Einfachheit genau das tat, was Bielefeld in diesem Winter so dringend brauchte:
Es ließ die Menschen für ein paar Minuten vergessen, wie viel Angst in diesem Fest inzwischen mitfeierte. Und erinnerte sie daran, dass man der Dunkelheit manchmal am besten mit einem schief gesungenen Weihnachtslied und einem warmen Stück Honigkuchen begegnet.

















